Page 90 - Entlebucher Brattig 2008
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«He, Sie… …halt!»
herum bekannter Wilderer. U nd habe ausserdem holte ich meine Schrotflinte, mit der ich bei Tieren
ein besonders grosses Schwein angeschossen.» gut geübt war und suchte diese Bestie.»
Die Frau ergänzt, ohne jedes Zittern in der «Und deshalb sind wir jetzt auf der Flucht.»
Stimme: «Wir waren Magd und Knecht auf dem- Schybi schaut durch das Glas des Beifahrer-
selben Hof. Ich schon als Verdingkind; er kam fensters. Grüne Mauern mit braunen Flecken
später dazu…» schiessen daran vorbei. Der Wagen fährt jetzt
Ein lautes Heulen. Es kommt immer näher. S chybi nicht mehr so glatt wie auf der Hauptstrasse, er
sieht durch das Heckfenster einen Wagen, auf holpert wegen der Unebenheit und der Steigung
dessen Dach ein blaues Licht schimmert. Der des Bodens. Schybi wird m elancholisch. Schon
Junge am Steuer beschleunigt, weicht einem auf anno 1653 hatte man in den Wäldern Zuflucht
der Gegenfahrbahn heranbrausenden Last- vor den Rachetruppen der Obrigkeit gesucht –
wagen gekonnt aus, überholt drei Autos, biegt und es war zwecklos. Und jetzt soll er sich hier
ab. nicht mit mutigen Aufständischen, sondern mit
Die Frau fährt fort, mit der gleichen Sicherheit gemeinen Kriminellen verstecken?
wie zuvor in Stimme und Blick: «Wir verliebten Der Wagen donnert über einen schmalen
uns ineinander. U nd es war eine schöne Zeit, Waldweg; links und rechts peitschen Zweige
endlich eine Ablenkung, eine andere W elt, ohne gegen die Fenster und kratzen Äste Spuren in
so viel Mühsal und Qual.» den Lack. Im Rückspiegel beobachtet Christian
«Ich fing an, Geld auf die Seite zu legen. Unser Schybi noch einmal das entschlossene Paar,
Traum war, z usammen abzuhauen und einen mustert dann aus dem Augenwinkel den jungen
eigenen Hof zu übernehmen.» Lenker. I hre B licke sind roh u nd rebellisch. Sie
«Kein Luxus, ein kleines Heimetli für uns und trotzen dem Hämischen und Herrischen. Ist
unsere K inder. W ir hatten alles geplant. Waren Schybi vielleicht deswegen zurückgekehrt?
geduldig, versteckten unsere L iebe vorsichtig.» Einen Hang hinab rattert der Wagen jetzt, bis er
«Bis ich eines Nachts erfuhr, d ass Christine – v om Blätterwerk völlig bedeckt – i m d ichten
2008 gezwungen wird…» Der Mann hält inne, sucht Geäst zum Stehen kommt. 89
d
z um ersten Mal unsicher –
«Was machen wir jetzt hier?» fragt die junge
–
en Blick seiner
BRATTIG Partnerin. Er drückt ihre H and fester und sie fährt Frau.
«Warten, bis die Zeit vergeht», ist die Antwort
fort, voll Hass und Entschlossenheit: «…dass
mich der Sohn des Bauern seit meinem fünf-
des Chauffeurs.
ENTLEBUCHER zehnten Geburtstag nachts regelmässig in mei- Schybi stützt sich auf seinem Trüssel ab und lacht
mit rebellischer Zufriedenheit: «Vielleicht werden
nem Kämmerchen aufsucht und vergewaltigt.»
«Ich konnte mich in meiner Wut, in meiner
s ein. Aber daran bin ich ja
es hundert Jahre
Rachelust nicht zurückhalten. Ich konnte ihn
auch nicht bei den Landjägern anklagen – d azu gewohnt.»
David F. Bärtschi, Escholzmatt, *1985, Studium Geschichte
war mein eigenes Hemd nicht weiss genug. Also und Spanisch an der Uni Bern.