Page 89 - Entlebucher Brattig 2008
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Hetzjagd





                David Bärtschi






                «Nächster Halt: Schüpfheim. Bitte alle Billette  Polizisten weichen zurück. «Mit Chnüttle muess
                vorweisen.»                                  mr luuse», stösst Schybi zwischen den zusam-
                Die Stimme kommt ihm bekannt vor.  H  ämisch  mengepressten Zähnen hervor. E in zweiter hefti-
                und herrisch. Genau wie bei der peinlichen   ger Schlag –  d  ie Söldnerhand, die sich zum
                Befragung anno 1653. Verdammte Obrigkeit,    Seitengewehr bewegte, ist von einem Stefzge
                immer dasselbe.                              aufgerissen. Ein Schmerzensschrei vom ersten,
                «Ihr Billett, bitte.»                        ein entsetzter Blick vom zweiten Polizisten. Das
                Und dieser Blick. Diese Uniform. Schweiss klebt  gibt Schybi Zeit, zu einem dritten Hieb auszuho-
                in Christian Schybis krausem, schulterlangem  len. Doch was ist das für ein Geräusch? Ein lang
                Haar und in seinem markanten Bart. Die Reise  gezogenes Quietschen, eine Stimme: «Komm,
                war lang und anstrengend. Er denkt an den    steig ein.» Schybi dreht sich um, ein Jugendlicher
                Entlebucher Trüssel in der Adidas-Sporttasche.  winkt ihm durch das Fenster einer dieser glän-
                Alt und trocken ist das Blut, das daran klebt.  zenden, seltsamen Kutschen ohne Pferde zu.
                Noch will er es nicht auffrischen.           Schybi folgt der Aufforderung, schlägt hinter sich
                «Ihr Billett, bitte.» Die Stimme wird  s chärfer, d er  die offene Tür zu. Ein spöttischer Blick: «Mann,
                Blick durchdringender.  H  ämisch und herrisch.  was trägst du denn für ein Kostüm? Kommst du
                Schybi ignoriert die Stimme, hält dem Blick stand.  von der Fasnacht?»
                Roh und rebellisch. Der Zug fährt in Schüpfheim  «Ich…» Ein heftiger Ruck schneidet Schybis
                ein. Die Stimme tauscht sich mit einer andern  Antwort ab und schleudert ihn nach vorne.
                aus: «Er weigert sich», die zweite ist noch schär-  «Schnall dich an, oder bist du von gestern?»
                fer: «Sie, zeigen Sie Ihr Billett. Verstehen Sie kein  Der  W  agen rast durch Schüpfheim, Häuser-
                Deutsch? Ticket, ticket.» Schybi steht auf, packt  kulissen sausen an den  F enstern vorbei. Schybi
                die Adidas-Tasche. Er überragt die beiden    mustert seinen Chauffeur. E r  i st jung, sehr jung,
                Kontrolleure  u  m  e  inen Kopf –  w  as so eine  trägt weite Jeans, ein rotes, bedrucktes T - Shirt
                Streckbank für Wunder wirkt! Ein kräftiger   und eine Baseball-Mütze. Weder Eisenbahn,
                Schlag mit dem Arm, der eine Kontrolleur kippt  noch Auto, noch diese Kleidung sind für Schybi
                auf die Seite –  u nd der Weg  i st frei. Mit einem  unbekannt, schliesslich hat er sich auf seine
                gekonnten Sprung landet Schybi auf dem       Rückkehr gut vorbereitet. Aber ungewohnt und
                Bahnsteig, durchquert rennend die Unter-     seltsam bleiben diese Dinge für ihn.
                führung, steht schon auf dem Bahnhofplatz. Was  «Du fragst dich wohl, weshalb ich mich freiwillig
                ist das? Zwei blaue Uniformen. Zwei Söldner der  in solche Schwierigkeiten  b  ringe?», sagt der
                Obrigkeit. Bewaffnet mit diesen kleinen, schwar-  Jugendliche zu Schybi. «Dann kennst du meine
                zen Büchsen am Gürtel. Herrische Stimmen: «He,  Vorgeschichte nicht: Ladendiebstahl, Erpressung
                Sie. Halt!». Rebellische Ignoranz. Schybi umklam-  des Lehrmeisters, Raserei… Und ausserdem noch
                mert die Sporttasche fester,  b  eschleunigt den  die.» Er zeigt auf die hinteren Sitze, Schybi wen-
     88         Schritt, entschlossen, Richtung Dorf. Die gfror-  det den Kopf: Ein junges Pärchen, Hand in Hand.
                nen Söldner folgen ihm. Er spürt ihre  s charfen  «Die hab’ ich in Marbach aufgeladen», lacht der
                Blicke im Rücken, scharf wie die Lanzen der  Autofahrer.  « Auch nicht gerade nach der neus-
                Landsknechte. Und wieder die herrische Stimme:  ten Mode.» Die Frau trägt einen weiten Rock,
                «Halt!». Schybi bleibt stehen. Man hat schliesslich  eine einfache Bluse, darunter wohl ein Korsett.
                nicht einen bewaffneten Aufstand angeführt, um  Der Mann hat schmutzige Leinenhosen an, mit
                354 Jahre  s päter vor zwei Landjägern nicht sei-  einem Ledergürtel befestigt, ein Hemd, das wohl
                nen Mann zu stehen. Der Reissverschluss ist  mal weiss und ganz war und ein dunkelbraunes
                kaum zu hören –  z u  g ut geölt, zu schnell. Das  Gilet. Unter dem linken Arm klemmt er eine
                gute, alte Holz des Trüssels in beiden Händen,  Schrotflinte fest. Auf Schybis fragenden Blick ant-
                eine schwungvolle Bewegung –   d  ie beiden  wortet er Schultern zuckend: «Ich bin ein weit
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