Page 97 - Entlebucher Brattig 2008
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sie von gutartigen Seelengeleitern in Empfang  Erscheinen oder Künden an lebende Menschen.
                genommen und behutsam in eine Zwischenwelt   Ihr Poltern oder Wimmern sind Hilferufe.
                geleitet. Sowohl nach christlichem als auch nach  Jemand muss etwas für sie tun. Bis auf den heu-
                vorchristlichem Glauben ist unter dieser Zwi-  tigen Tag  g  lauben Menschen, solchen armen
                schenwelt nicht ein räumlich begrenzter Ort zu  Seelen helfen zu müssen. Sensitive und hellsich-
                verstehen, sondern eine andere  B  ewusstseins-  tige Personen werden gerufen, um mit dem
                dimension. Diese Dimension ist das Reich der  Poltergeist zu verhandeln. Sie versuchen die
                Geister,  D  ämonen und unerlösten Toten. (...)  Wünsche der unerlösten Seele zu erfüllen. Oft
                Das Christentum hat die alte Auffassung vom  fordern diese eine Anzahl Messen, die an einem
                Reich der Geister keineswegs verdrängt, son-  Wallfahrtsort wie Werthenstein, Heiligkreuz
                dern sich bloss über die ursprüngliche Kultur  oder Einsiedeln gelesen werden müssen.
                geschoben. Im alpenländischen Totenbrauch-   Manche Geistliche und spirituell begabte Men-
                tum kommt diese Tatsache in vielen Bereichen  schen von heute, die in solchen Fällen um Hilfe
                zum Vorschein.»                              gebeten werden, reagieren differenzierter.  S ie
                                                             wissen nämlich, dass unerlöste Seelen sich
                Hanspeter Niederberger und Christoph Hirtler  immer an Menschen wenden, die mit den
                haben im sagenhaft schönen Buch «Geister,    Verstorbenen in einer besonderen Verbindung
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                Bann und Herrgottswinkel» fesselnde Beispiele  stehen; meistens sind nämlich Verfehlungen
                gesammelt, wie alter heidnischer Zauber und  und Konflikte  i m  S piel, die mit ungerechtem
                übergestülpte christliche Rituale zum Bannen  Eigentum zu tun haben. Was  i hnen helfen
                gefährlicher Geister verwendet wurden und    kann, ist Gerechtigkeit, nach dem Satz des
                werden.                                      Propheten Hosea 6,6: «Gerechtigkeit will ich,
                Die Sage vom Kind, das die Sträggele raubt, in  nicht Opfer.»
                Stücke reisst und im Lande zerstreut, ist ein
                Psychodrama aus vorchristlichen Mythen und   Nichts ist ungeheurer als wir Menschen selbst.
                katholischen Praktiken. Eine überforderte Mut-  Wirklich! Nach Tagesschau und 10 vor 10 wis-
                ter kämpft mit ihrem widerborstigen Kind. Das  sen wir es jeden Tag  n eu: Bagdad, Afghanistan,
                Kind soll sterben, die Totendämonin soll es mit-  Darfur,  L ibanon, Burma, Terror und gefolterte
                nehmen. Die Drohung ist zwar nicht ernst     Terroristen, Menschenhandel und Hungersnöte,
                gemeint, aber der Wunsch, das Kind zu töten,  im Mittelmeer ertrinkende afrikanische Flücht-
                ist stärker als ihre  V ernunft. Sie treibt den Teufel  linge, Vergewaltigungen in Bürgerkriegen und
                mit Belzebub aus. Die Strafe ist entsetzlich. Das  auf Schulhöfen unserer Städte, Kampfscheidun-
                Verbrechen muss gesühnt werden.              gen, in denen die Kinder zerrieben werden...
                Wir s ind vermutlich im 17. Jahrhundert, der Zeit  Wenn das alles einmal gesühnt werden muss!
                einer überhitzten barocken Frömmigkeit. An   «Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als
                den Fundstellen der Leichenteile wird  j e  e  ine  der Mensch» (Sophokles: Antigone, 442 v. Chr.).
                kleine Kapelle errichtet mit einem Altärchen und  Wer  i st sich selbst geheuer? Der Sufi-Mystiker
                Statuen der Muttergottes oder anderer Heili-  Shibli erzählt, wie ein Hund ihm zeigte, was wir
                gen. Jedes wurde vermutlich mit gottesdienst-  von uns selber halten.
                lichem Gepränge eingeweiht und die Gläubigen  «Ich sah, wie ein durstiger Hund am Rande
                vor so gefährlichem heidnischem Tun  g ewarnt.  eines Teiches stand und trinken wollte. Doch
                Bis heute sind die Eigentümer der Liegenschaft,  jedes Mal, wenn er einen Schluck nehmen woll-
                auf der das Chäppili steht, verpflichtet, es zu  te, sah er sein Spiegelbild, erschrak und wich
                unterhalten, und Eltern erzählen ihren Kindern  zurück, weil er meinte, einen anderen Hund vor
     96         bis in unsere  Z eit vom schrecklichen Ursprung  sich zu haben. Als sein Durst zu gross wurde,
                der Kapellchen.                              überwand er schliesslich alle Furcht und sprang
                                                             ins Wasser. I n  d em Augenblick verschwand sein
                Unheimlich ist ungebüsste Schuld. Die Vor-   Spiegelbild. Das einzige Hindernis zwischen ihm
                stellung ist, dass die schuldig Verstorbenen am  und dem, was er suchte, war verschwunden –
                Ort ihres Verbrechens mit schleifenden Ketten,  er selbst in seinem Spiegelbild.» 4
                Getrampel und Klopfen wandeln müssen. Sie
                scheinen   Gefangene in ihrem ehemaligen     Was  b raucht wohl mehr Mut, einem Gespenst
                Lebensraum zu sein, erdgebundene Geister, d ie  in die Augen zu schauen oder sich selbst?
                nicht wahrhaben wollen, dass sie ihre  H  abe
                loslassen müssen. Sie wenden sich durch ihr
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